„Das Wertvollste ist nicht unser Lohnausweis, sondern unsere Lebendigkeit“


Foto: Damian Poffet

Viele Menschen wollen bei der Arbeit nicht nur Erfolg haben, sondern auch Erfüllung spüren. Der Weg dorthin braucht oft Mut, Gewohntes loszulassen und auf die innere Stimme zu hören. Wie man seine Berufung findet, erklärt der Coach und Journalist im Interview.

Von Anja Maurer

Herr Morgenthaler, hat jeder Mensch eine Berufung?
Es ist wie mit der Frage nach dem Sinn des Lebens: Es hilft, wenn wir annehmen, dass es so etwas gibt. Berufung ist für mich aber keine objektive Grösse, sondern etwas, das wir entdecken können.

Und wie findet man die eigene Berufung?  
Es ist einfacher zu beschreiben, wie man sie garantiert nicht findet: indem man versucht, die Erwartungen von Eltern, Lehrpersonen, Vorgesetzten etc. zu erfüllen. Die Berufung zu finden und zu leben, ist eine Emanzipations- und Entwicklungsaufgabe. Dazu gehört wesentlich, andere Menschen zu enttäuschen und auch mal Dinge zu tun, die andere für unvernünftig halten.

„Doch was, wenn der Lohn primär Schmerzensgeld ist und die Arbeit einem die Energie raubt?“

Das tönt nach einem anstrengenden Weg.
Das ist Einstellungssache. Es kann sehr befreiend sein, sich weniger anzupassen. Leider strengen sich viele Leute lieber in fremder Sache an, als dem Eigenen auf die Spur zu kommen. Sie arbeiten wie verrückt, verrichten Überstunden, absolvieren Weiterbildungen – und hoffen, irgendwann mit Zufriedenheit belohnt zu werden. Doch wenn das Motto lautet «Ich bin, was ich leiste», ist es nie genug. Da wir keine Maschinen sind, tun wir gut daran, in uns hineinzuhören und uns zu fragen: Welche natürlichen Talente bringe ich mit? Wo bin ich in meinem Element? Welche Tätigkeit ist bedeutsam und berührend für mich? Fleiss bringt uns da nicht weiter. Solche Fragen brauchen vor allem Raum, Offenheit – und die richtigen Gesprächspartner*innen.

Einige Menschen, die beispielsweise eine Familie ernähren müssen, haben da wahrscheinlich nur ein müdes Lächeln übrig. Was sagen Sie diesen?
Es ist leicht, Gründe zu finden, die gegen eine Veränderung sprechen. Spannender ist es allerdings, nach guten Wegen zu suchen. Die meisten Widerstände sind nicht auf dem Bankkonto oder sonst wo im Aussen, sondern in unseren Köpfen. Viele Menschen haben Angst davor, Gewohntes loszulassen. Selbst wenn sie leiden, halten sie am Bekannten fest, weil das für sie berechenbar ist. Doch was, wenn der Lohn primär Schmerzensgeld ist und die Arbeit einem die Energie raubt? Wäre es dann nicht eine Option, vorübergehend ein tieferes Einkommen in Kauf zu nehmen für eine neue Arbeit, die glücklicher macht – auch der Familie zuliebe? Das Wertvollste, was wir haben, ist nicht unser Lohnausweis, sondern unsere Lebendigkeit.

Es können doch nicht alle einfach ins Blaue hinaus kündigen?
Es gibt oft bessere Alternativen zum Ausharren als das Leben komplett auf den Kopf zu stellen. Warum nicht das Pensum im angestammten Beruf reduzieren und nebenher ein, zwei andere Tätigkeitsfelder aufbauen? Oft beklagen sich Menschen im Coaching, sie hätten nicht die eine grosse Berufung, sondern viel zu viele Interessen. Das ist doch wunderbar, wenn man aus dem Vollen schöpfen kann. Nie war die Zeit günstiger, um verschiedene Dinge zu kombinieren.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Der Geograf, der leidenschaftlich gerne Mountainbike fährt und dank Kursen vom Freizeitsportler zum Tourenleiter wird und nach einiger Zeit acht bis zwölf Wochen pro Jahr mit Gruppen in der Toscana unterwegs ist; die Juristin, die um die Lebensmitte ein grosses Interesse für Psychologie entwickelt und sich zur Hypnosetherapeutin weiterbildet. Oder der Medienspezialist eines Bundesamts, der von Freitag bis Sonntag mit Freunden Rezepturen für Tonics und Aperogetränke entwickelt und dankbar ist für den Kontrast der zwei Welten. In uns allen stecken so viele Möglichkeiten!

Ist die Beschäftigung mit dem Thema Berufung nicht ein Luxusphänomen?
Zweifellos. Die Frage ist aber: Was machen wir aus dem im letzten Jahrhundert erreichten Wohlstandslevel? Gerade weil die meisten in der Schweiz extrem privilegiert sind, erachte ich es als unsere Pflicht, etwas Sinnvolles mit unserer Zeit anzufangen. Die Sinn- und Herzfragen kommen in unserer Gesellschaft oft zu kurz. Die dürfen ruhig etwas aufgewertet werden.

„Wenn man seiner inneren Stimme folgt, antwortet das Leben mit den erstaunlichsten Zufällen.“

Angenommen, alle würden ihrer Berufung folgen, wer würde unseren Abfall entsorgen, Kanalisationen reinigen oder Fenster putzen?
Viele dieser Tätigkeiten, die ein niedriges Sozialprestige haben, können in Zukunft automatisiert werden. Zudem würde ich nicht sagen, dass harte körperliche Arbeit nicht befriedigend sein kann. Eine Person, die den Abfall einsammelt und entsorgt, verrichtet eine äusserst sinnvolle und systemrelevante Tätigkeit. Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, solche Arbeit aufzuwerten.
Wer in einem wichtigen Job hart arbeitet zu erträglichen Bedingungen, geht am Ende des Tages mit einem besseren Gefühl nach Hause als jemand, der irgendwo so tut, als würde er arbeiten, obwohl er nichts bewirkt. Solche Bullshit-Jobs, wie sie der Kulturanthropologe David Graeber genannt hat, sind Gift für das Individuum und die Gesellschaft.

Was haben Sie persönlich aus den über 1000 Interviews, die Sie für den „Bund“ und Tages-Anzeiger geführt haben, gelernt?
Zunächst Disziplin, weil es nicht immer einfach war, über so viele Jahre Woche für Woche ein spannendes Gespräch zu realisieren. Vor allem aber war es ein grosses Geschenk, in so viele Leben eintauchen zu dürfen. Die allermeisten Interviewpartnerinnen und -partner waren viel mutiger als ich. Sie haben mich gelehrt, dass Unsicherheit nichts Schlimmes ist und man Neues wagen darf. Die Begegnungen haben mich ermutigt, den Schritt in die Selbständigkeit zu wagen. Wenn man seiner inneren Stimme folgt, antwortet das Leben mit den erstaunlichsten Zufällen.

„Entscheidend ist nicht, was man Kindern sagt, sondern was man ihnen vorlebt. Ich versuche ihr vorzuleben, dass das Leben keine Prüfung ist, sondern eine Entdeckungsreise.“

Sie haben eine Tochter im Teenageralter. Wie unterstützen Sie sie dabei, ihre Berufung zu finden?
Entscheidend ist nicht, was man Kindern sagt, sondern was man ihnen vorlebt. Ich versuche ihr vorzuleben, dass das Leben keine Prüfung ist, sondern eine Entdeckungsreise. Ich ermutige sie zudem, ab und zu auch mal eine schlechte Note nach Hause zu bringen. Es kommt nicht darauf an, in allen Fächern gut zu sein. Wichtiger ist, dass sie herausfindet, was ihr Herz höher schlagen lässt und sich traut, ihrer Neugier zu folgen.

Herr Morgenthaler, Hand aufs Herz, haben Sie Ihre Berufung gefunden?
Ich glaube, das ist eine lebenslange Annäherung. Ich erlebe das, was ich tue, als persönlich und sinnvoll. Und wenn ich dankbare Rückmeldungen erhalte von Menschen, deren Leben sich zum Besseren verändert hat, besänftigt das die immer mal wieder auftretenden Selbstzweifel. Aber ich bin noch lange nicht am Ziel, es gibt noch viele Entwicklungsmöglichkeiten. So habe ich letzten Sommer mit einem Berufskollegen ein zweites Unternehmen gegründet, um Coaches und Mentor*innen auszubilden, die ihrerseits dann andere in ihrer Entwicklung unterstützen können. Die Arbeitswelt von morgen braucht mehr Menschen, die sich selber kennen und anderen helfen können, ihr Potenzial zu entfalten.

 

 

 

 

Über Mathias Morgenthaler
Mathias Morgenthaler ist Coach, Journalist und Buchautor. Für den «Bund» und Tages-Anzeiger hat er über 1000 Interviews zum Thema Beruf und Berufung geführt. Er berät Einzelpersonen und Unternehmen in der Frage, wie Menschen beruflichen Erfolg und persönliche Erfüllung in Einklang bringen können.

www.beruf-berufung.ch