«Weil ich die Steuer nicht verstehe, lehne ich sie ab»

Wie kommen wir zu unseren politischen Meinungen? Die Politologin Isabelle Stadelmann von der Universität Bern erklärt die zwei Grundmodelle der Meinungsbildung, was Echokammern sind und was geschieht, wenn jemand zu einer Vorlange nur Teilinformationen besitzt. 

Von Reto Liniger

Frau Stadelmann, Sie haben viel zur Meinungsbildung von Menschen geforscht. Hilft Ihnen Ihre Arbeit bei der eigenen Meinungsbildung?

In meiner Meinungsbildung ticke ich wohl wie viele Bürgerinnen und Bürger und nicht speziell «wissenschaftlich». Ich überlege mir, was mir an einer Vorlage gefällt und was nicht, und wäge schliesslich Pro und Contra gegeneinander ab. Vielleicht hilft mir meine Arbeit insofern, als dass ich es gewohnt bin, mir verschiedene Argumente zusammen zu suchen und weiss, wo ich die für mich relevanten Informationen finde.

Wie bilden denn die Bürgerinnen und Bürger ihre Meinung?

In der Politwissenschaft gibt es zwei Grundmodelle, wie sich Menschen ihre Meinungen bilden. Entweder werden die Informationen zusammengesucht und systematisch verarbeitet. Die Meinungsbildung geschieht basierend auf diesen Inhalten und Fakten.

Und das zweite Modell?

Man hält sich an Akteure oder Bewegungen, denen man nahesteht. In diesem Modell bildet man sich nicht selbst durch Abwägung von inhaltlichen Vor- und Nachteilen eine Meinung, sondern übernimmt die Meinung dieses Akteurs. Diese zweite Form der Meinungsbildung lehnt an unser repräsentatives Politsystem an, deshalb ist dieses Modell auch nicht schlechter als das andere.

Aber?

Es ist grundsätzlich problematisch, wenn sich Wählerinnen und Wähler in Echokammern informieren – wobei es Echokammern in beiden Modellen gibt. Echokammern sind Systeme, die nur Teilinformationen bereithalten, also beispielsweise nur Argumente und Meinungen, die für oder gegen eine Vorlage informieren. Auch das führt noch nicht zwingend zu einer «schlechten» Meinungsbildung. Aber es stellt sich die Frage, ob jemand nicht zu einer anderen Meinung gelangen würde, hätte er ausbalanciertere, vollständigere Informationen.

 

«Würde jemand zu einer anderen Meinung gelangen, hätte er ausbalanciertere Informationen?» 

 

Mit den sozialen Medien besteht die Gefahr, dass sich immer mehr Menschen in solchen Echokammern informieren. Welcher Effekt hat dies auf Abstimmungsergebnisse?

Auch da gibt es verschiedene Ansätze. Eine Richtung besagt: Fehlendes Wissen führe dazu, dass man grundsätzlich neue Vorlagen ablehne.

Stadelmann: «Systeme, die nur Teilinformationen bereithalten.»

Haben Sie ein Beispiel?

Wir haben viele Analysen zur Klimapolitik gemacht. Zum Beispiel zur Frage: Was wissen die Leute über die ökologische Lenkungssteuer? Dabei kam heraus, dass die meisten nicht viel dazu wissen. Vor allem versteht oder glaubt eine Mehrheit der Leute nicht an den Nutzen dieser Massnahmen – also ist es nicht erstaunlich, dass sie sie ablehnen.

Können Sie diese Haltung genauer erklären?

Viele Menschen machen eine Kosten-Nutzen-Rechnung. Bei einer Lenkungsabgabe sieht man die Kosten sehr gut. Es ist eben eine neue Steuer, aber den Nutzen sehe ich nicht direkt, weil ich nicht weiss, wie die Steuer funktioniert. Deshalb lehne ich sie ab.

Wenn aber jemand nur Teilinformationen über eine Vorlage besitzt, kann er keine vollständige Nutzen-Kosten-Rechnung machen.

So etwas wie eine vollständige Nutzen-Kosten-Rechnung gibt es wohl nicht. Wichtiger als harte Fakten sind sowieso oft subjektive Wahrnehmungen. Aber es stimmt natürlich, Aspekte, die man nicht versteht, beeinflussen die Meinungsbildung auch nicht. Das kann dazu führen, dass Informationen, die man versteht, die Meinungsbildung dominieren – andere Informationen hingegen keinen Einfluss auf die Meinungsbildung entfalten.

Aber schlussendlich hat jeder hat das Gefühl, er habe die Vor- und Nachteile genügend abgewogen?

Das ist die Crux an Echokammern. Es ist oft nicht offensichtlich, dass man vielleicht nur die eine Seite an Informationen zu Gesicht bekommt, sondern kann durchaus den Eindruck haben, man sein ausgewogen informiert und wüsste über die wichtigen Punkte Bescheid. Dazu trägt auch bei, dass in heissen Abstimmungskämpfen oft nicht mehr viel Information vermittelt wird, sondern vor allem mit Schlagworten gearbeitet wird.

Im zweiten Teil des Interviews spricht Stadelmann über eines der klarsten Muster in der politischen Meinungsbildung.