Freiheit durch Akzeptanz

Wir sind den Wechselfällen des Lebens hilflos ausgeliefert. Was bringt uns der nächste Tag? Wir wissen es nicht. Wie umgehen mit dieser Unsicherheit? Der französische Autor Albert Camus hatte da eine Lösung.

Von Reto Liniger

Absurd nannte der französische Autor Albert Camus die Welt. Absurd deshalb, weil der Mensch gerne klare Strukturen und Planbarkeit hätte, das Leben aber sowas nicht bieten kann. Der Mensch mag Übersichtlichkeit, er hätte gerne, wenn sich das Leben an ein Drehbuch halten würde und wenn alles irgendwie sinnvoll wäre. Der Mensch kann gar nicht anders, als ständig Sinn zu suchen. Sein Gehirn jagt nach Erklärungen, denn das Gedächtnis ist auf Ordnung angewiesen. Die Welt hält sich aber an kein Drehbuch, sie hat teils schockartige Ereignisse für uns parat – beispielsweise die Corona-Pandemie. Schroffe Wechsel, die von einem Tag auf den anderen unser Leben verändern: eine Krebs-Diagnose, Unglück in der Familie oder einen Lotto-Sechser. Alles Menschenmögliche kann geschehen, ohne dass darüber ein Sinn waltet; einzig dem Prinzip der Kontingenz – der Zufälligkeit – gehorcht das Leben. 

Erlösung gibts nur im Jenseits

Die Absurdität entspringe der Gegenüberstellung zweier unvereinbarer Wahrheiten. «Absurd ist der Zusammenstoss des Irrationalen mit dem heftigen Verlangen nach Klarheit, das im tiefsten Inneren des Menschen laut wird», schreibt Camus in seinem Essay «Der Mythos des Sisyphos». Wer dem heftigen Verlangen nach Sinn jedoch nachgebe, glaube immer an ein künstliches Konstrukt, um die Sinnlosigkeit abzuwenden, so Camus. Eine Religion oder eine politische Utopie verheissen die Erlösung im Jenseits, weil es im Diesseits nicht möglich ist. Camus verdeutlicht die Situation mit dem Mythos des Sisyphos: Die Götter verurteilten Sisyphos dazu, einen Felsen unablässig den Berg hinaufzuwälzen, von dessen Gipfel der Stein kraft seines eigenen Gewichtes wieder hinunterrollt. Sisyphos bemüht sich Tag für Tag, ohne je etwas zu vollenden – ohne je Sinn zu finden. Die Geschichte des Sisyphos ist eine Allegorie auf das Leben jedes Menschen. Wir alle sind Sisyphos, wir stehen auf, wir arbeiten, wir essen, wir werden krank, wir gewinnen im Lotto und – wir beginnen jeden Tag wieder von vorne, ohne je einen höheren Sinn im Leben zu entdecken.

Sein Schicksal angenommen

Camus lässt seinen Essay jedoch mit dem geflügelten Satz enden: «Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.» Camus hat Sisyphos zum glücklichen Menschen erkoren, weil dieser sein Schicksal angenommen hat. «Sein Fels ist seine Sache.» Camus ist überzeugt, Zufriedenheit erfährt der Mensch nur über: Akzeptanz.

 

 

 

 

 

Warum ist Sisyphos glücklich? 

Sisyphos wird erst glücklich, nachdem er sich entschieden hat, seine Last im Bewusstsein der Einwilligung zu schultern. «Die erdrückenden Wahrheiten verlieren an Gewicht, sobald sie erkannt werden.» Wer die Absurdität der Welt erkennt, gewinnt an Freiheit. Freiheit ist gewonnen, wo der Mensch akzeptiert, dass die Welt schweigt und in ihren Wiederholungen an keinerlei Sinn gebunden ist. «Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann.»

 

Die Geschichte des Sisyphos ist eine Allegorie auf das Leben jedes Menschen.

 

Sisyphos sucht nicht mehr nach Sinn, er kann die ewig gleiche Handlungsabfolge hinnehmen und so ein Stück weit seine Freiheit zurückerobern. Den unangenehmen Tatsachen müssten wir ins Auge blicken, so Camus. Wir sollten unser Dasein in all seinen Zügen auskosten und das Hier und Jetzt möglichst intensiv leben. Nicht zufällig zitiert Camus im Vorspann zu seinem Sisyphos den griechischen Dichter Pindar: «Liebe Seele trachte nicht nach dem ewigen Leben, sondern schöpfe das Mögliche aus.»

Triff mutige Entscheide

Akzeptanz heisse nicht, in eine Art Schockstarre zu verfallen, schreibt der Camus-Biograf Martin Meyer. Wir müssten jene Gegebenheiten akzeptieren, die wir nicht ändern und mutige Entscheide treffen, wenn wir die Situation zu unseren Gunsten verändern können. Der Esel, der Hunger hat und zwischen zwei Heuhaufen steht, sollte nicht verhungern, weil er sich weder für den einen noch für den anderen Haufen entscheiden kann, sondern sich mutig für einen der beiden Haufen entscheiden.

 

Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos, Rowohlt