Sich von der Welt berühren lassen!

Ein gelingendes Leben geht über die Erfahrung von Resonanz, sagt der deutsche Soziologe Hartmut Rosa. Dies sei aber heute nur schwer möglich, weil alles viel zu schnell läuft. Wie meint er das?

Von Reto Liniger

Sei es in der digitalen oder in der analogen Welt – Gewohntes verändert sich heute immer schneller. Ob neue Apps auf dem Handy, Updates beim E-Banking oder Wandel in der Sprache – unsere Lebensgewohnheiten sind einem schnellen Wandel unterworfen.

Der auffälligste Motor der Beschleunigung ist die Innovation, die kreative Zerstörung. Sie hätte theoretisch dazu führen müssen, dass dem Einzelnen mehr Zeit zur Verfügung steht, weil er dank effizienterer Technologien für seine Tätigkeiten weniger Zeit benötigt; doch das Gegenteil sei der Fall, schreibt der deutsche Soziologe Hartmut Rosa in seinem Buch «Beschleunigung». Es ist paradox, aber die modernen Menschen leiden an Zeitknappheit. Einerseits, weil sie heute mehr Aktivität in einen Zeitabschnitt packen und andererseits, weil sie sich ständig updaten müssen, um à jour zu bleiben. 

 

«Gut ist das Leben, wenn wir uns von der Welt berühren lassen; wenn wir uns mit der Welt in Einklang fühlen.»

 

Mehr Reichtum, mehr Freiheit Noch immer steckt in den Köpfen vieler Menschen die Vorstellung, Wandel und Beschleunigung bedeuteten eine Steigerung zum Besseren – unser Leben wird immer angenehmer. Der Status quo – die Stagnation – wurde zum unerwünschten Zustand erniedrigt, Erlösung verspricht nur das ständige Voranrattern. Die Steigerungslogik geht aber nicht spurlos am Menschen vorbei. Wir Tempogestressten verlören in nahezu allen entwickelten Ländern unser selbstbestimmtes Leben, so Rosa. Die Beschleunigung untergrabe die Autonomie des Menschen. Die Folge sei Entfremdung. Eine Entfremdung im doppelten Sinne: eine Entfremdung vom Selbst, im Sinne von Karl Marx, aber auch eine Entfremdung vom guten Leben. 

Die Lösung ist...

Im Buch «Resonanz» fragt Hartmut Rosa, was gutes Leben ausmacht. Die Beschleunigung ist angetreten, uns das Leben besser zu machen, sie bewirkt aber genau das Gegenteil. Seine Lösung offeriert er gleich zu Beginn des Buches: «Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung.» Gutes Leben sei immer an die Erfahrung von Resonanz gebunden. Der Begriff stammt aus der Physik und bezeichnet eine Objekt-Subjekt-Beziehung. Resonanz bedeutet wortwörtlich: Widerhall, physikalisch meint es das Mitschwingen eines Körpers mit einem anderen.

 

Eine resonante Weltbeziehung als Schlüssel zum guten Leben

Es geht also bei Resonanz um zwei Körper, die zwar in einem Verhältnis stehen, beide Körper aber eigenständig bleiben, mit eigener Stimme sprechen. Die Qualität des menschlichen Lebens hänge stark von den Beziehungen zur Welt und zu anderen Menschen ab. Gut ist das Leben, wenn wir uns von der Welt berühren und bewegen lassen; wenn wir uns mit der Welt in Einklang fühlen. Resonante Weltbeziehungen erleben wir in einem Museum, wenn wir vor einem Bild stehen, beim Sport, oder wenn wir in unserer Arbeit aufgehen. 

Fast alle Menschen machen es automatisch, wenn sie sich einem Baby in einem Kinderwagen nähern. Sie sprechen in einer Art, von der sie glauben, dass das Baby sie versteht. Sie gestikulieren und lachen, und das Baby reagiert. Aber wenn sie einfach so dastehen, ohne Resonanz, ist das unerträglich für das Baby. Es versteht die Welt nicht mehr. Genau so gehe es dem Menschen heute. Die Moderne vermag das Bedürfnis des Menschen nach Resonanz nicht zu befriedigen, weil sie sich immer schneller verändert.

Stabile Beziehung in einer rasenden Welt?

Wenn die Welt rast, kommen lediglich die Ultraflexiblen mit. Wer träge ist, technisch nicht versiert oder geistig zu wenig flexibel, geht unter. Eine stabile Beziehung sei zu einer rasenden Welt kaum mehr möglich – die Welt verstummt, die Schwingungen klingen ab. Nur noch flüchtige, momentanhafte Erfahrungen sind möglich. Und so fällt es uns immer schwerer zu sagen, wer wir sind, weil sich um uns alles schnell verändert. Krankheiten, wie die Depression und das Burn-out, seien nicht zufällig zu Volkskrankheiten avanciert.

Die Lösung heisse nicht Entschleunigung, sondern eine Postwachstumsgesellschaft. Rosa hält nicht viel von Achtsamkeit und Yoga. Für ihn ist der Wachstumszwang der modernen Gesellschaft das Problem. Er denkt an ein bedingungsloses Grundeinkommen; an wirtschaftsdemokratische Institutionen; und er denkt an mehr Natur oder Religion. Die systematische Entwicklung einer politischen Ökonomie des guten Lebens steht allerdings noch aus – mit seinem Buch «Resonanz» hat er aber schon mal Lust auf mehr gemacht.

Buchtipp: Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Suhrkamp