Die Diktatur der Algorithmen

Google Maps erklärt uns, wo wir durchfahren, und Amazon welche Bücher wir lesen sollen – dies ist allerdings nur die Spitze des Eisbergs. Der Einfluss der künstlichen Intelligenz auf unser Leben nimmt laufend zu. Was verlieren wir, wenn künstliche Intelligenz für uns entscheidet? 

Von Reto Liniger

Liberale Gesellschaften fürchten menschliche Diktatoren – aber bislang kaum maschinelle. Eine solche macht sich gerade breit in unsere Mitte: die künstliche Intelligenz. Wir alle kennen das, wenn Algorithmen berechnen, welche Filme wir schauen oder welche Bücher wir lesen sollten. Die Macht der Algorithmen wird laufend virulenter. Algorithmen entscheiden, wer aus der Haft entlassen wird, wer in die EU einreisen darf und sie sagen uns, welche Medizin am besten für uns ist. Starke künstliche Intelligenz hat gar zum Ziel, die intellektuellen Fähigkeiten von Menschen zu übertreffen.

Unbestritten hat künstliche Intelligenz einen positiven Effekt auf unser Leben, dann nämlich, wenn sie Menschen von lästiger Arbeit befreit. Oder in der Wissenschaft. Wenn sie Daten so durchforstet, dass man dadurch zu neuen Erkenntnissen kommt. Sie ist aber dann bedrohlich, wenn sie über das Schicksal von Menschen entscheidet. Oder wenn sie den Menschen das Entscheiden generell immer mehr abnimmt – und genau das tut sie heute. Würde man die auf der Welt gefällten Entscheide betrachten, der Anteil der maschinell getroffenen Entscheide würde exponentiell ansteigen, derjenige der menschlichen nur linear. Dies ist kein Zufall, sondern Massenpsychologie. Die Wissenschaft spricht vom Bandwagen-Effekt. Wir folgen bei einem Festzug dem Wagen, auf dem die Musik spielt, weil wir alle gerne aufseiten der Sieger stehen. Auf Algorithmen übersetzt heisst das: Wir suchen die Entscheide der Algorithmen, weil die meisten Menschen den Algorithmen vertrauen. Dieser Effekt wirkt selbstverstärkend. Der Historiker Yuval Hariri meint: «Vielleicht werden bald die wichtigsten Entscheide in Politik und Wirtschaft von Algorithmen getroffen.» 

Was auf dem Spiel steht

Nicht zufällig sprechen Fachleute bereits von einer Algokratie – einer Diktatur der Algorithmen. Die Folge für den Menschen ist ähnlich der politischen Diktatur: Die Autonomie des Menschen steht auf dem Spiel. «Wenn die Möglichkeit, selbst zu werten und zu entscheiden, unsere Freiheit ausmacht, dann ist diese im digitalen Zeitalter stark eingeschränkt», schreibt der deutsche Philosoph David Richard Precht in seinem Buch «Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens».

Bis heute geht kein Aufschrei durch die Gesellschaft. Besonders jungen Menschen sollte obiges Zitat ein Graus sein, denn sie verspüren den Drang nach einem persönlichen Leben stärker als erwachsene. Eine Persönlichkeit entwickelt sich zwischen zwei entgegengesetzten Kräften: Zwischen dem Drang nach Individualisierung und der Kraft der Anpassung, die danach trachtet, den Menschen bestimmten Strukturen zu unterwerfen. In diesem Spannungsverhältnis entsteht die Persönlichkeit. Das ist ein Kampf zwischen Individualität und Konformität. Keine Persönlichkeit entsteht ohne Revolte gegen die bestehenden Strukturen, doch nicht allen Menschen ist es vergönnt, eine Persönlichkeit zu werden, viele Menschen bleiben Allerwelts-Typen, die gerne den Bandwagen-Effekt leben. 

Überzeugungen gegen Widerstände verteidigt

Die Weltgeschichte kennt starke Persönlichkeiten. Wirklich autonom ist ein Mensch erst dann, wenn er seine Überzeugungen gegen Widerstände verteidigt; gegen die Gleichmacherei einer Religion, gegen eine politische Utopie, gegen Modetrends oder einen Algorithmus. Der Reformator Martin Luther war autonom; er stellte seine persönliche Überzeugung der mächtigen katholischen Kirche und dem Kaiser entgegen. Vor Gericht zwang ihn der Kaiser im April 1521, seine reformatorischen Schriften zu widerrufen. Luther widersetzte sich, er verteidigte seine innerste Überzeugung mit den geflügelten Worten: «Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir, Amen.» Autonom waren auch die Geschwister Hans und Sophie Scholl; sie widersetzten sich der Nazi-Diktatur bis zu ihrem Tode. Der Autor James Joyce schrieb dazu: «Das Leben eines Entwurzelten scheint mir viel weniger verächtlich als das Leben eines Menschen, der sich mit der Tyrannei des Durchschnitts abfindet.»

Jederzeit selbst Denken, das war die Maxime Immanuel Kants; nicht Priester, Algorithmen oder Partei denken für mich. Ich muss es selber tun. Mit dieser Fähigkeit unterscheidet sich der Mensch von anderen Objekten. Tiere folgen Instinkten und Steine warten darauf, bewegt zu werden – der Mensch hingegen besitzt keine festgefügte Natur. Er ist zur Freiheit verdammt, wie der Philosoph Jean-Paul Sartre schreibt. Der freie Entscheid bildet gemäss Sartre erst die Persönlichkeit aus. Der Mensch sei zunächst «Nichts», sagt Sartre. Er macht sich erst durch seine Entscheide zu dem, was er ist. Indem der Mensch sich immer wieder entscheidet, wählt er, wer er sein will.  

 

 

Jean-Paul Sartre: «Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt.»

Sartres Existenzialismus verspricht, dass ein freies Leben möglich ist, solange wir uns den Entscheidungen unseres Lebens stellen. Wer allerdings der Verantwortung des Entscheids ausweiche, verfehle die Anforderung des Lebens und wähle eine Scheinexistenz. Bücher sind voll von Schlüsselmomenten: Ob Dramen von Shakespeare, Goethe oder Jane Austen – alle handeln von wichtigen Entscheidungen. Soll ich in den Krieg ziehen? Soll ich ihn heiraten? Sein oder Nichtsein?

Die Angst, Entscheide zu treffen

In solchen Momenten zeigt sich: Freiheit bedeutet nicht nur Glück, sondern auch Last. Unsere Freiheit fordert von uns, ein Leben lang Entscheide zu treffen – dies kann beängstigen. Es ist die Angst, falsche Entscheide zu treffen oder Chancen nicht zu nutzen. Es ist die Angst vor der Verantwortung. Deshalb neigen viele Menschen gerne dazu, ihre Freiheit zu opfern und sich einer Fremdbestimmung zu beugen – einer Religion, einer Ideologie oder dem Algorithmus eines Tech-Konzerns. Bereits der weise Staatsmann Perikles wusste vor 2000 Jahren, das Geheimnis des Glücks sei die Freiheit, und das Geheimnis der Freiheit sei der Mut.

Die Tech-Apologeten monieren, dass es kaum Sinn mache, auf den menschlichen Entscheid zu setzen. In den letzten Jahren sind viele Bücher erschienen, die auf die irrationalen Entscheide des Menschen hinweisen; und aufzeigen, wie Algorithmen zu besseren und schnelleren Entscheiden gelangen als der Mensch. Es dürfte noch besser kommen: Nehmen wir die Berufswahl. Ein Algorithmus könnte, sollte er die nötigen biometrischen Daten haben, einem jungen Menschen bei der Berufswahl den entscheidenden Tipp geben, im Metallbau einzusteigen, da dieser Beruf seinen Fähigkeiten ganz entspricht. Er würde so den Umweg über die Bäckerlehre nicht machen und direkt im Metallbau einsteigen – weil die Algorithmen die Neigung des Lernenden entschlüsselt haben.  

 

«Das Leben eines Entwurzelten scheint mir viel weniger verächtlich als das Leben eines Menschen, der sich mit der Tyrannei des Durchschnitts abfindet.»

 

Was sollen Menschen tun, wenn Algorithmen künftig nahezu alle ihre Probleme beseitigen und stets die beste Lösung parat haben, fragt der deutsche Philosoph Precht. Mit jedem gelösten Problem werde die Dimension des Lebens zusammengestrichen, «bis am Ende ein Zustand der Sorglosigkeit dabei herauskommt, den man der Definition gemäss nicht mehr Leben nennen kann.» Zum Leben gehört, dass wir falsche Entscheide treffen. Beim besten Willen lassen sich Kummer und Frust nicht aus der Welt befördern. Irrungen und Wirrungen sind gar wichtige Elemente des menschlichen Lebens. Die Buddhisten meinten, nichts geschieht ohne Grund, auch das Leid und der Frust haben einen Sinn, sie lehren uns, stark zu sein, wenn wir schwach sind, tapfer zu sein, wenn wir Angst haben, weise zu handeln, wenn wir verwirrt sind, und das loszulassen, was wir nicht festhalten können. Das Leben existenzialistisch begreifen heisst, mit den eigenen Entscheiden leben; und Optimierung bedeutet, gelassener zu werden.

Das Internet und die digitalen Technologien nehmen viel Raum in unserem Leben ein – und dürften laufend mehr Raum einnehmen. Es ist die Luft, die wir jeden Tag atmen. Höchste Zeit, unser Verhältnis zu den neuen Technologien zu klären. Welche Rolle soll künstliche Intelligenz künftig in unserer Gesellschaft einnehmen? Wie weit soll ihr Einfluss gehen? Und welche Wesen wollen wir in unserem Leben eigentlich sein? Welche Art von Sein wollen wir haben – und welche nicht? Fragen, die unsere Gesellschaft, und jeder für sich, unbedingt beantworten sollte.